„Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7)
Der obige Passus aus dem ersten Kapitel des 2. Timotheus begründet in wenigen Worten gleichermaßen Wert und Aufgabe von Schule: Jedem Menschen sind Fähigkeiten gegeben, die er allein erkennen muss, um sie fortan auch entfalten zu können. Ihn auf diesem Wege zu begleiten, den Mut zu fassen, diese ihm eigene Kraft und seinen Wert für die Gemeinschaft zu erkennen, ist der vornehmliche Bildungszweck von Schule. In diesem Sinne sollte der Entwicklung der Persönlichkeit jedes einzelnen Kindes die uneingeschränkte Achtung und Wertschätzung gebühren. Da jeder Mensch zugleich nicht nur isoliert für sich steht, sondern sich nach biblischem Verständnis in einem Beziehungsgefüge zu Gott, seinen Mitmenschen und der Natur und der ihn umgebenden Kultur befindet, haben Schule und Bildung des Weiteren das erklärte Ziel, dass Menschen lernen, ihr Denken auf die Gemeinschaft auszudehnen und für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. „Verantwortungsbewusste Mündigkeit“ als Ziel der Bildung im evangelischen Sinn meint daher „den Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens“. Ein solches Bildungsverständnis grenzt sich ab gegen jeden Versuch, das Lernen in der Schule zu reduzieren auf ökonomische Leistungserwartungen und an Bedürfnisse des Marktes und Erfordernisse gesellschaftlicher Funktionalität anzupassen. Es fokussiert sich ferner darauf, dass Bildung mehrdimensional angelegt sein muss, auf lebensförderliche Inhalte achtet und dem einzelnen Zeit lässt, nachzudenken, sich zu entwickeln, eigene Wege zu finden und zu gehen.
Der 2017 veröffentlichte Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung bestätigt jedoch erneut, dass das dargelegte Bildungsverständnis in dem von Bildungsinstitutionen geprägten Alltag der Jugendlichen kaum bzw. keinen Platz gefunden hat und allein der Erwerb von Qualifikationen und Zertifikaten deutlich im Vordergrund standen, Jugend aber mehr als eine Zeit der Qualifizierung sein müsse, da sie auch Chancen zur Selbstpositionierung und Verselbstständigung bereit zu halten habe. Diese Feststellung bestärkt uns immer noch in unserem Verständnis, dass Schule mehr als ein Lernort zu sein hat, welcher Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit eröffnet, sich selbst zu positionieren, Interessen auszubilden bzw. wahrzunehmen und Selbstständigkeit zu erleben, um die erwähnte „verantwortungsbewusste Mündigkeit“ im evangelischen Sinn entwickeln zu können.
In dem Ansinnen, diesem Gedanken in unserer Schule gerecht werden zu wollen, haben wir, das Evangelische Gymnasium Nordhorn, im Jahr 2017 das Projekt „Herausforderung“ für die Jahrgangsstufe 10 ausgearbeitet und erstmals erprobt.[1] So befinden wir uns inzwischen bereits im sechsten Durchgang. Im Rahmen des Projektes sollen unsere Schülerinnen und Schüler die geforderte Möglichkeit erfahren, sich – fern von Schule – zu entdecken, sich nach persönlicher Präferenz Ziele zu setzen und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. In diesem Zusammenhang sollen sie Mut fassen und daran wachsen, Anstrengungsbereitschaft ausbilden und Selbstgewissheit ausschärfen.
Um einen grundlegenden Überblick zu ermöglichen, sollen in den folgenden Kapiteln nun zentrale Fragen zum Projekt „Herausforderung“ Klärung finden.
- Was ist das Projekt „Herausforderung“?
- Herausforderungen bilden Persönlichkeit
Welch grundlegende Bedeutung Herausforderungen jedweder Art für den Menschen haben, greift bereits die antike Philosophie auf und manifestiert damit schon vor 2000 Jahren den Wert ebendieser für die Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen: Crescit animus, quotiens coepti magnitudinem attendit [Seneca, quaestiones naturales, III, 4] – „der Mut wächst, sooft er seine Aufmerksamkeit auf die Größe eines Vorhabens richtet“. Herausforderungen lassen uns, gleich welchen Alters, wachsen, sie befördern unsere Anstrengungsbereitschaft, wecken Entdeckungsfreude, fordern unseren Wagemut und stärken unser Verantwortungsgefühl und Selbstbewusstsein. Diese Erkenntnis findet gleichermaßen Bestätigung in empirischen Studien der Neurowissenschaften und der Pädagogik, nicht zuletzt aber auch durch die uns eigene Lebenserfahrung.
1.2 Herausforderungen und Schule
Dass Herausforderungen somit auch an die Schule gehören und sich Schülerinnen und Schüler mit diesen konfrontiert sehen sollen, erscheint in diesem Sinne nur folgerichtig. Der Begriff der „Herausforderung“ würde an dieser Stelle natürlich missdeutet werden, fassten wir darunter allein das Schreiben guter Noten. Junge Menschen müssen vielmehr fern klassischer Unterrichtsstrukturen die Gelegenheit bekommen, auf Grundlage ihrer Interessen – also intrinsisch motiviert – zu entdecken und zu experimentieren, sei es bspw. ästhetisch, sportlich, wissenschaftlich, kulturell oder sozial. Indem sich die Schülerinnen und Schüler ihrer selbst gewählten Herausforderung stellen und in gleicher Weise Momente des Gelingens, aber auch Misslingens erfahren, bilden sie eine Vielfalt an Talenten und Persönlichkeiten aus, auf welchen sie aufbauend weitere Herausforderungen im Leben suchen werden.
Das niedersächsische Schulgesetz fordert im Bildungsauftrag der Schulen (§2) in gleicher Weise dazu auf, dass Schülerinnen und Schülern der dargestellte Erfahrungsraum und die Gestaltungsfreiheit geboten werden müssen, um die eigene Persönlichkeit auf Grundlage christlich humanistischer Werte weiterzuentwickeln und Verantwortung zu übernehmen.[2] Konträr zu diesem Gedanken ist es jedoch u.a. durch den Druck curricularer Vorgaben selbiger Institution unmöglich, den Schülerinnen und Schülern im Rahmen traditioneller Unterrichtsstrukturen diese individuellen Erfahrungsräume zu eröffnen. Es stellt sich folglich die Frage, wie bzw. in welcher Form Schule jungen Menschen diese Entwicklungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen kann.
1.3.1 Das Projekt „Herausforderung“ am EGN – Jg. 10
Wir, das Evangelische Gymnasium Nordhorn, haben beschlossen, als teilgebundene Ganztagsschule den Projektbereich dahingehend zu öffnen und damit gleichsam den durch das Sozialdiakonische Praktikum in Jahrgang 9 eingeschlagenen Weg fortzusetzen. So erfahren unsere Schülerinnen und Schüler zunächst in den Jahrgangsstufen 5-8 unter Anleitung und in dem Umfeld Schule die Möglichkeit, Themen und Interessen nachzugehen, die sich nicht unmittelbar mit den klassischen Unterrichtsfächern verbinden (so u.a. das „Musical“-Projekt, die Ausbildung zum Schulsanitäter, das „Fair-Trade“-Projekt oder der „Schulgarten“). Daran anknüpfend lernen unsere Schülerinnen und Schüler im Sozialdiakonischen Praktikum nach einem halben Jahr der Vorbereitung, in sozialen Einrichtungen der Stadt Nordhorn Verantwortung für ihre Mitmenschen zu übernehmen. Im Projekt „Herausforderung“ nehmen sich unsere Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 10 anschließend in Kleingruppen (in etwa drei oder vier Schülerinnen und Schüler + Begleitperson) eigenständig eines mindestens einwöchigen Vorhabens (bis zu 10 Tage) an, planen und setzen es zuletzt um.
Die konzeptionelle Gestaltung des Projektbereiches als Teil des schulischen Ganztages im Überblick:
1.6 Konzepterweiterung 2023