Der folgende Beitrag wurde am Evangelischen Gymnasium Nordhorn anlässlich des Gedenkens im Jahr 2020 an den 09.11.1938 erstellt. Es handelt sich um Teil 2 von 6. Jeder Beitrag steht für sich, aber alle Beiträge ergeben ein Ganzes.
Beleidigungen wie „Judensau“ oder „du dreckiger Jude“ mussten sich so manche jüdische Bürger Deutschlands damals anhören. Wir greifen das in diesem Text bewusst auf, um deutlich zu machen, wie damals stigmatisiert und gehetzt wurde. Eben deshalb ist für uns inakzeptabel, dass an manchen Schulhöfen in Deutschland die Bezeichnung „du Jude“, als Beleidigung verwendet, wieder im Umlauf ist.
Die Aussagen zu den Handlungen gegenüber den Juden in diesem fiktiven Tagesablauf beruhen auf wahren Begebenheiten. Es kam tatsächlich zu diesen Vorgängen in Nordhorn, in unserer Stadt. Wir denken bei Nazis an ranghohe Parteikader im damaligen Berlin, beispielsweise an Hitler, Himmler oder Göring. Aber die Taten vor Ort wurden nicht von Hitler, Himmler oder Göring begangen. Sondern von Nazis in Nordhorn.
Ich arbeite bei RAWE und eigentlich war der 09.11.38, ein Mittwoch, ein normaler Arbeitstag. In der Pause traf ich meine Kollegen. Ich stellte mich zu ihnen und fragte, was es so Neues gäbe. Einer reagierte sehr schroff: „Du hast das nicht mitbekommen?! Diese Juden haben einen deutschen Botschafter getötet! Ein junger Pole. Kommunisten!“ - „Wie? Wann?“ „Ja, so eine Judensau, in Paris!“
Nach der Arbeit ging ich mit zwei Kollegen in meine Stammkneipe. Wir tranken, es wurde Musik gespielt und einige tanzten. Es war so gegen 22.30 Uhr, da stürmte ein Mann rein. „Aufforderung aus München! Die SA-Leute fangen an, die Synagoge auseinanderzunehmen!“ „Die aus der Kriegerhalle!?“ Ich lief Richtung Hauptstraße und sah Chaos, Aufruhr. Ein Stückchen weiter, Hauptstraße 48, dort wohnten Juden, (heute Geschenkeladen Depot) flogen Sachen aus dem Fenster. Wertsachen, Kleidung und Möbel. Überall, wo Juden ein Geschäft hatten, wurden die Fensterscheiben eingeworfen, die Ware auf die Straße geschleudert, die Frauen, Männer und Kindern angegriffen und die Männer verschleppt. Gegenüber Nummer 49 (heute Kochlöffel) wohnt Familie Oster, ebenfalls Juden und Inhaber eines Textilgeschäftes. Dort verhafteten die SA-Leute Herrn Oster. Seine Frau und Kinder mussten wohl verstört dabei zuschauen, wie ihr Hab und Gut - und der Familienvater gleich mit - weggetragen wurden. Ich folgte der Masse Richtung Synagogenstraße. Ich hörte den Lärm von Geschrei, Trümmerteilen und zerbrechenden Fenstern zwar schon von weitem; doch war ich geschockt, als ich bei der Synagoge ankam. Dort waren 20 bis 30 SA-Männer dabei, die Synagoge zu zerstören. Viele Nordhorner schauten dabei zu. Direkt daneben, im Haus Nummer 5 (heute „Mode by Mildes“), wohnt eine jüdische Familie, die Cohens. Ich sah, wie der Vater Isaak aus dem Haus gezerrt wurde, während die beiden Töchter - 5 und 8 Jahre alt - sich mit ihrer Mutter in Sicherheit bringen konnten. Niemand unternahm etwas. Danach wurde auch in ihrem Haus alles zerstört. In der Synagoge lief das Zerstörungswerk ebenfalls mit aller Macht, da kamen zwei SA-Männer aus den Trümmern stolziert und hielten das Heiligste der Synagoge in den Händen. Sie hatten die Tora-Rollen aus ihrem schützenden Schrank gerissen und warfen sie wie Dreck auf die Straße. Ich konnte dabei zusehen, wie die Tora-Rollen in einem höhnischen „Triumphzug“ durch die Hauptstraße getragen wurden.
Dieses alles geschah unter den Augen der Nordhorner Bürger. Ab diesem Datum konnte niemand mehr sagen, er habe „davon“ nichts gewusst.