Tagebucheinträge von Friedrich Hopfeld (fiktiv, basierend auf wahren Begebenheiten)

13. November 2020

Der folgende Beitrag wurde am Evangelischen Gymnasium Nordhorn anlässlich des Gedenkens im Jahr 2020 an den 09.11.1938 erstellt. Es handelt sich um Teil 5 von 6. Jeder Beitrag steht für sich, aber alle Beiträge ergeben ein Ganzes.

- einige Monate vor der Flucht -

Liebes Tagebuch, heute hat Carl Strübbe mich erneut dazu gedrängt, das Land zu verlassen. Und je mehr Tage verstreichen, desto besser erscheint mir diese Idee. Denn in letzter Zeit ist es schwer für uns geworden: Unsere Meinung wird unterdrückt und unser Geschäft boykottiert – der Antisemitismus grassiert. Wieso sind die Menschen so? Warum Hitler? Warum kam er an die Macht? Ich habe so unglaublich viele Fragen und so wenige Antworten. Deswegen ist es wahrscheinlich besser für uns zu fliehen. Friedel ist sehr davon überzeugt, aber ich sehe darin auch ein großes Risiko. Wir könnten alles verlieren, weil wir alles verkaufen müssten. Bringt das genug Geld? Außerdem würde meine Tochter Helga am Boden zerstört sein, ihre Freunde verlassen zu müssen. Und sie ist doch noch so jung – versteht sie das überhaupt? Andererseits hätten wir neue Chancen und Rechte. Wir könnten ein komplett neues Leben anfangen – ohne Hitler und ohne Anfeindungen uns gegenüber. Außerdem kann Helga so wenigsten ohne Angst aufwachsen. Das Leben hier in Nordhorn ist auch nicht mehr schön und es könnte noch schwieriger werden, denn keiner weiß was Hitler als nächstes machen wird oder was die Nazis in Nordhorn machen werden. Und wenn man alles gut plant und überdenkt, müsste es auch funktionieren. Ich frag mal Carl, ob er mir helfen kann mit den Finanzen und der Flucht und alles was dazu gehört. Ich denke, wir sollten fliehen.

19.05.1937 (ca. drei Wochen nach der Flucht)

Liebes Tagebuch, geschafft! Wir sind in Detroit angekommen und haben ein Dach über dem Kopf und den Einstieg in die Arbeitswelt geschafft. Aber bis zu diesem Punkt mussten wir einen langen Weg gehen. Erstmal die Entscheidung zu treffen, hat Nächte gekostet. Und Nerven. Als das dann endlich geschafft war, mussten wir alles vorbereiten. Ich weiß nicht, was ich ohne Carl gemacht hätte. Hoffentlich geht es ihm gut. Sorgen um Geld haben wir dank ihm zum Glück nicht. Er hat in Nordhorn alles erfolgreich angekurbelt. Am Morgen der Abreise gab es allerdings noch einige Probleme – ich wachte mit Migräne auf, Helga weinte und Friedel war mit der ganzen Situation überfordert.

War aber auch klar – auf so eine Situation kann sich niemand vorbereiten. So etwas kann sich, glaube ich, niemand vorstellen. Kaum zu glauben, dass wir das durchmachen mussten. Nachdem wir uns alle wieder beruhigt hatten und ich eine Tablette genommen hatte, konnten wir endlich los. Carl half uns ein weiteres Mal und brachte uns zum Schiff. Dort angekommen war es diese komische Atmosphäre, man sagt „Tschüss“, bleibt aber stehen. Trotz der langen Vorbereitung, die Heimat zu verlassen, konnten wir unsere Tränen nicht zurückhalten. Die Matrosen riefen, dass es los ginge, und während wir zum Schiff liefen, wurde uns bewusst, dass es kein zurück mehr gibt und alle Ängste und Sorgen kamen wieder hoch. In Amerika angekommen, fuhren wir sofort weiter nach Detroit, weil wir erfahren hatten, dass es dort Arbeit und Englischkurse für Migranten gibt. Zurückblickend waren die ersten Wochen am schwersten für uns. Arbeit hatte ich zwar gefunden, aber Geld gab es dafür nur wenig. Außerdem brauchte Helga lange, um sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Sie hat viel geweint. Aber jetzt habe ich eine Geschäftsidee. Hoffentlich schaffen wir damit den Sprung zurück in ein schönes Leben.

27.04. 1959

Liebes Tagebuch, 10 Uhr: heute ist es soweit, ich komme endlich wieder nach Hause. Carl ist auch bei mir und wir wollen gemeinsam sehen, was aus Nordhorn und seinen Menschen geworden ist. Damals war es so…ja, darüber will ich gar nicht mehr nachdenken. Es war die richtige Entscheidung wegzuziehen und dank Carl war es auch nicht zu spät. Ich meine, wir haben überlebt und ich bin ein gutverdienender Geschäftsmann, doch meine Heimat fehlte mir immer…was werden die Menschen jetzt von uns denken? Werde ich alte Bekannte wiedersehen? Vor einem halben Jahr habe ich schon ein paar Briefe an alte Freunde verschickt, doch niemand hat geantwortet. Wie ist es ihnen ergangen? Sie können doch nicht alle tot sein. Oder? Aber hätten sie sonst nicht zurückgeschrieben? Haben sie sich etwa so verändert? Ich habe aber alles schon durchgeplant, einen Ami-Schlitten in Hannover gemietet und mit Carl gesprochen. Ich werde nicht den Kopf einziehen. Ich habe überlebt und in Amerika mein Glück gefunden und darauf bin ich stolz und das werde ich auch zeigen.

20 Uhr: Es war so ein gutes Gefühl durch Nordhorn zu fahren und wieder zuhause zu sein, dazu noch in dem Ami-Schlitten… ich habe viele komische Blicke zugeworfen bekommen, doch es war mir eine große Befriedigung, so durch die Stadt zu fahren! Am späten Nachmittag traf ich dann noch auf Dieter und wir haben ziemlich lange geredet. Er erzählte mir, was alles passiert ist: Vom Krieg, der Judenverfolgung, den Menschen und wie sie sich verändert haben. Die meisten Menschen, die ich kannte, waren tot. Meine jüdischen Bekannten und Freunde…weg…ermordet. Sie hatten nicht so viel Glück und konnten fliehen. Andere waren im Krieg gefallen und wieder andere, auch alte Freunde, hatten sich gegen Juden gewendet. Ich konnte es nicht fassen. Ich war zuhause, doch es fühlte sich nicht so an. Die ganze Gewalt, der Schmerz, … und dann erzählte er mit Bedauern von der Reichspogromnacht. Das Feuer, die ganzen unschuldigen Menschen…. Ich dachte, ich würde gleich zusammenbrechen. Ich konnte es nicht glauben. Wie konnte es soweit kommen? Wie können Menschen nur zu so etwas fähig sein? Ich war zuhause, aber wieder auch nicht, denn es würde nie wieder so sein wie früher. NICHTS konnte so etwas jemals ungeschehen

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