Tagebucheinträge von Max und Ruth Salomonson (fiktiv, beruhend auf wahren Begebenheiten)

14. November 2020

Der folgende Beitrag wurde am Evangelischen Gymnasium Nordhorn anlässlich des Gedenkens im Jahr 2020 an den 09.11.1938 erstellt. Es handelt sich um Teil 6 von 6. Jeder Beitrag steht für sich, aber alle Beiträge ergeben ein Ganzes.

 

unbekanntes Datum, Januar 1933

Mein Name ist Max Salomonson und ich führe dieses Tagebuch. Die neue Fleischerei läuft derzeit nicht gerade gut und wir sind fast bankrott. Wir werden boykottiert, weil wir Juden sind. Die Nazis in Nordhorn wollen nicht, dass Menschen bei uns einkaufen. „Kauft nicht bei Juden!“, diese Aussage wird hier leider von vielen beherzigt. Der Judenhass, die Ablehnung und Ausgrenzung sind für uns alle spürbar. Ich werde mein Bestes tun, um den Laden wieder zum Laufen zu bringen. Für meine Frau und meine Tochter.

2. März 1933

Es entstehen Unruhen in Berlin, doch die Folgen sind hier noch kaum spürbar. Man hört gewisse Gerüchte, zum Beispiel, dass der Reichstag gebrannt haben soll. Aber das ist nur Geseier. Im Gegensatz zur Hauptstadt geht es uns mittlerweile gut, denn das Geschäft läuft wieder einigermaßen.

25. Juni 1933

Mir geht es zurzeit nicht gerade gut. Ich war auch schon beim Arzt, aber er meinte, ich sei nur am Mosern. Aber ich merke, dass es mit von Tag zu Tag schlechter geht. Doch trotz meines Unwohlseins bin ich glücklich. Meine kleine Tochter entwickelt sich prächtig. Sie ähnelt ihrer Mutter immer mehr. Ich bin unglaublich stolz auf sie und freue mich darauf, sie weiterhin aufwachsen zu sehen.

07. August 1936

Hallo Papas Tagebuch, ich bin Ruth, die Tochter von Max. Beim Aufräumen des Kleiderschrankes habe ich dich unter einer Bodenplatte gefunden. Mein Vater ist vor drei Jahren an einer Blutvergiftung gestorben. Ich vermisse dich von Tag zu Tag mehr. Doch wirklich tot sind nur jene, an die sich niemand mehr erinnert. Weißt du, ich gehe jetzt auch schon in die Altendorfer Schule. Es macht mir dort total Spaß! Ich habe auch schon neue Mädchen kennengelernt! Morgen möchte ich mich mit ihnen treffen und mit ihnen spielen. Ich freue mich schon darauf! Vielleicht werden wir ja Freunde.

28. September 1938

Liebes Tagebuch von Papa, in der Zeit, in der ich dir nicht geschrieben habe, ist sehr viel passiert. So bin ich auf eine neue Schule gekommen. Jetzt bin ich auf der Burgschule. Und der Durchschnitt von meinem Herbstzeugnis liegt bei 2,6. Damit bin ich die fünftbeste in meiner Klasse. Meine Kunstnote hat meinen Schnitt leider ein bisschen runtergezogen, aber das macht nichts. Ich möchte eh nichts mit Kunst machen, wenn ich später groß bin. Ich möchte, so wie du Papa, meinen eigenen Laden haben! Vielleicht keine Fleischerei (Mama beschwert sich immer, wie viel Arbeit das doch ist), sondern vielleicht einen kleinen Krämerladen oder, so wie Onkel Friedrich, ein Textilgeschäft. Mama sagt Onkel Friedrich sei sehr reich. Ich möchte später auch so reich werden, um meine eigene Familie zu ernähren. Ich möchte nämlich fünf Kinder haben, weißt du, Papa. Aber erstmal beende ich meine Schule.

11. November 1938

Es ist etwas Schreckliches passiert! Diese Nazis haben vorgestern Abend die Synagoge unserer Gemeinde zerstört! Mit Werkzeug haben sie alles kaputt gemacht. Nichts ist mehr Heile geblieben. Sie haben unsere Tora-Rollen auf die Straße geschmissen, uns und unsere Religion ausgelacht, uns beschimpft und das aller schlimmste: sie haben alle Männer unserer Gemeinde gefangen genommen. Ich weiß nicht genau, wo sie hingebracht wurden. Mama meinte etwas von Oranienburg. Ich kenne diesen Ort nicht. Scheint weit weg zu sein. Aber Mama und die anderen Frauen wollen sie wieder abholen. Sie hat sich mit ihnen bei uns im Haus getroffen. Sie meinte ich soll in mein Zimmer gehen, weil ich noch zu klein sei. Doch ich habe sie ein bisschen belauscht. Sie hatte alle Angst und weinten.

25.November 1938

Sie haben es geschafft! Sie haben es wirklich geschafft! Mama und die anderen Frauen sind gestern mit den Männern wiedergekommen. Sie sind alle unversehrt. In der Zeit, als sie weg waren, habe ich bei meiner Freundin gewohnt. Wir haben viel Nonsens gemacht. Aber als ich heute wieder in die Schule gegangen bin, war sie nicht mehr nett zu mir. Sie meinte, dass ich nicht mehr zur Schule dürfte. Als ich dann meine Lehrerin gefragt habe, ob das denn wohl stimme, hat sie mich nach Hause geschickt, mit der Begründung, dass sie keine Juden mehr unterrichten wolle und dürfe. Zuhause habe ich geweint. Das ist unfair. Die anderen dürfen doch auch noch zur Schule. Was ist anders an mir? Ich bin doch genauso wie sie, oder?

29. November 1938

Hallo liebes Tagebuch von Papa, Mama schickt mich nach Almelo zu meiner Tante. Andere Kinder der Gemeinde kommen auch mit, nur die Mütter nicht. Warum nicht? Ich möchte nicht von Mama getrennt sein. Ich habe schon dich verloren, ich kann Mama nicht auch von verlieren! Außerdem möchte ich nicht von Zuhause weg. Hier sind meine Freunde, meine Familie und meine Spielsachen. Ich habe Angst allein Zug zu fahren. Ich bin doch erst acht! Aber naja, Mama lässt sich nicht überreden. Ich höre sie nachts oft weinen. Ich möchte ihr nicht noch mehr Kummer bereiten.

22. Februar 1939

Ich habe heute von meiner Tante erfahren, dass Mama die Fleischerei verkaufen musste. Einfach so wurde sie dazu genötigt. Und das Schlimmste ist, dass Mama kein Geld dafür bekommen hat. Stell dir das mal vor! Die haben einfach UNSEREN Laden geraubt! Von was solle wir denn jetzt Leben? Hier in Almelo wird das Leben auch immer gefährlicher, hat meine Tante gesagt. Ich verstehe nicht, was die Männer in den Uniformen von uns wollen… wir haben doch nichts getan.

4. April 1939

Mama ist endlich gekommen, um mich zu holen. Ich habe mich riesig gefreut. Zwar sind wir nicht nach Hause gefahren, sondern nach Rotterdam, aber immerhin sind wir wieder zusammen. In der Gegend, in der wir wohnen, leben auch noch andere Juden wie wir, die von zu Hause weggezogen sind. Wir spielen oft zusammen im Hof Ball oder verstecken, werden dann aber immer von unseren Eltern ermahnt, wir sollen nicht so laut sein und rufen uns rein. Aber immer, wenn sie Sirenen hören oder diese Männer in den Uniformen sehen, müssen wir uns doch irgendwo verstecken. Manchmal verstehe ich die Erwachsenen nicht. Aber naja, solange wir nicht wieder umziehen müssen, ist alles gut.

10. Juli 1942

Wir wurden gefangen genommen. Mama meinte, wir würden nur noch mal umziehen müssen, aber mittlerweile verstehe ich, dass diese Männer uns Juden gefangen nehmen und uns in irgendwelche Sammellager stecken. Es ist ekelig und dreckig hier. Außerdem gibt es nicht genug Betten für alle. Mama und ich müssen oft ein Bett teilen. Manchmal muss ich auch mit bei einer fremden Person im Bett schlafen und Mama legt sich dann neben mich auf den kalten, dreckigen Boden. Sie weint sehr oft und ich versuche sie immer zu trösten. Dann nimmt sie mich in den Arm und beteuert mir, wie leid ihr alles täte, dass sie mich nicht schützen konnte. Dann bekomme ich auch immer Angst. Wovor wollte sie mich beschützen? Und was passiert jetzt mit uns? Werden wir für immer hier wohnen müssen? Es verschwinden immer häufiger Menschen aus dem Sammellager. Sie werden dann von den Aufsehern mitgenommen. Vielleicht werden sie wieder freigelassen. Ich hoffe, dass wir auch bald wieder freigelassen werden. Ich möchte ja noch meine Familie gründen und meinen Laden eröffnen. Ich habe mich mittlerweile umentschieden. Ich möchte keinen Krämerladen, sondern eine eigene Schule errichten, damit auch Kinder wie ich wieder zur Schule gehen können und nicht so enden wie ich.

 

In der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 1942 wurden Ruth und Rika wie 2 Millionen andere Juden in Auschwitz ermordet. Ruth war damals 13 Jahre alt.

 

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