Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, verehrte Gäste,
in welche Welt entlassen wir eigentlich unsere Abiturientinnen und Abiturienten mit dieser „Entlassungsfeier“? Das habe ich mich bei der Vorbereitung dieser Rede häufig gefragt. Euch für euren weiteren Lebensweg alles Gute und möglichst viel Erfolg zu wünschen, an die ein oder andere Anekdote eures Jahrgangs zu erinnern – von denen es doch einige zu erzählen gebe, von ausgefallenen Studienfahrten und einem ausgelassenen Chaostag zu berichten – das erschien mir doch angesichts der Weltlage, die unser Bundeskanzler als „Zeitenwende“ bezeichnet, allzu banal. Ist diese Zeitenwende eigentlich bei uns in der Schule angekommen? Was bedeutet sie für die Bildung und was bedeutet sie nicht zuletzt für euch, liebe Abiturient*innen?
Beim Nachsinnen über diese Fragen erinnerte ich mich an die Rede, die ich selbst als Vertreterin meines Jahrgangs 1984 – also vor mittlerweile 38 Jahren – auf meiner Abiturentlassungsfeier gehalten habe. Die meisten von uns Abiturient*innen blickten damals sorgenvoll in die Zukunft: Am 22. November 1983 hatte der Bundestag der Aufstellung von Mittelstreckenraketen mit 286 zu 225 Stimmen bei einer Enthaltung zugestimmt. Für die politisch Aktiven unter uns bedeutete das die Erfahrung einer ersten massiven politischen Niederlage, waren doch Hundertausende und wir mit ihnen gegen diese atomare Aufrüstung auf die Straße gegangen. Ich erinnere mich gut, dass ich damals in meinem Zimmer die Bundestagsdebatte im Radio verfolgt und vor Enttäuschung über die Entscheidung geweint habe. Für uns alle war mit diesem Beschluss aber auch eine reale Angst verbunden: Angst vor immer weiterer atomarer Aufrüstung und einem Atomkrieg in Europa. Dazu kam noch Angst vor Umweltzerstörung und vor Arbeitslosigkeit. Das alles hat mich damals veranlasst, ein Gedicht von Bertold Brecht zum Ausgangspunkt meiner Rede zu nehmen:
Die Antwort (1940)
Mein junger Sohn fragt mich: Soll ich Mathematik lernen?
Wozu? möchte ich fragen.
Daß zwei Stück Brot mehr ist als eines:
Das wirst Du auch so merken!
Mein junger Sohn fragt mich: Soll ich Englisch lernen?
Wozu? möchte ich fragen.
Dieses Reicht geht unter und reibe
Du nur mit der flachen Hand den Bauch und stöhne
und man wird Dich schon verstehen.
Mein junger Sohn fragt mich: Soll ich Geschichte lernen?
Wozu? möchte ich fragen.
Lerne nur Deinen Kopf in die Erde zu stecken,
dann wirst Du vielleicht übrig bleiben.
Ja! Lerne Mathematik, sag ich, lerne Englisch,
ja lerne Geschichte.
Meine damalige Rede besitze ich nicht mehr – sie ist bei meinen vielen Umzügen verloren gegangen. Das Gedicht aber hat an seiner Aktualität nicht verloren. Wozu all die Inhalte, mit denen ihr euch in den letzten Jahren beschäftigen musstet, wo doch eine globale Krise die nächste jagt? Wozu die Formeln, die Vokabeln, die Gedichte, die Analysen, die Facharbeiten, wo doch die Erkenntnisse der Wissenschaft seit Beginn der 70er Jahre genau die Krisen prognostiziert haben, die wir heute sehen, und dies doch nicht zu einem Umdenken geführt hat? Wozu? fragt ihr und auch wir als Lehrer*innen dürfen diese Frage nie vergessen: wozu unterrichten wir das alles und ist es wirklich das, was die jungen Menschen zukünftig brauchen werden?
Umso überraschender fällt die Antwort aus, die in dem Gedicht ein Jahr nach Beginn des 2. Weltkrieges gegeben wird: Ja! Lerne Mathematik, sag ich, lerne Englisch,
ja lerne Geschichte.
Man kann diese Antwort auch als Ausweichen vor den drängenden WOZU-Fragen lesen. Ich lese diese Antwort aber als einen Appell, an einer Bildung festzuhalten, die über den Tag hinausweist. Eine Bildung, die mehr ist, als Ausbildung und Ertüchtigung zu einem Beruf. Und damit ist nicht gemeint, dass Bildung notwendig mit einem Studium einhergeht: es gibt gebildete Handwerker genauso wie es ungebildete Ärzte oder Juristen gibt. Gemeint ist aber auch keine Bildung die darauf zielt, lebenspraktische Tipps etwa für die zukünftigen Steuererklärungen oder die besten Versicherungsangebote zu geben – so wie es sich manche Schülervertreter*innen in den Medien wünschen. Ich höre hier einen Appell für eine Bildung, die auf mehr zielt als darauf, euch bestmögliche Startchancen für die bestmögliche Karriere mit dem bestmöglichen Jahresgehalt zu geben. Vielmehr geht es um eine Bildung, die den Horizont erweitert, die den Kopf und das Herz öffnet, damit die Welt verändert werden kann und man sich ihr nicht der Gegenwart und ihren Problemen ausliefert. Weder ihr noch ich wissen, was in fünf Jahren ist. Aber ich bin davon überzeugt: es kann, ja es darf nicht einfach so weitergehen. Denn wenn es einfach so weitergeht, dann werden wir von Katastrophe zu Katastrophe laufen. Ich hoffe sehr, dass wir euch in den letzten Jahren ein solches Bildungsfundament mitgegeben haben: neben der Erweiterung eures Horizontes hoffentlich auch Herzenswärme und Empathievermögen. Darum ist für unsere Schule die christliche Orientierung so wichtig und sie spiegelt sich ganz besonders im SDP, in der Herausforderung und in EIS wider.
Auf Euch und Eure Generation kommt es in den nächsten Jahren an. Ich kann verstehen, wenn ihr auf uns ältere und mittelalte Generationen zornig seid: uns ging es in unserem Leben letztlich immer ganz gut – und auch 1984 war der Krieg eine Angstvorstellung, jetzt aber ist er Realität in Europa. Wir haben immer gedacht, es ginge so weiter und auch wenn wir versucht haben, anders zu leben, haben wir es nicht geschafft, das Ruder herumzureißen. Diese Aufgabe kommt jetzt auf euch und eure Generation zu. Mischt euch ein! Zieht euch nicht ins private, individuelle Glück zurück! Übernehmt Verantwortung! Ich traue euch das zu. Nicht zuletzt euer Abitur hat gezeigt, dass ihr das Potential dazu habt.
Zugelassen zur diesjährigenAbiturprüfung waren 73 Schüler und Schülerinnen. Von diesen haben 73 – also alle!!! - die Prüfung bestanden. Ihr habt mit dem Abitur das Ziel des Gymnasiums erreicht – darauf könnt ihr stolz sein und ich gratuliere euch von Herzen! Einige ganz besondere Leistungen möchte ich dennoch besonders hervorheben: 25 Abiturientinnen und Abiturienten haben ein Zeugnis mit einem Schnitt unter 2,0, das sind 34% des Jahrgangs. Unter ihnen ragen vier Zeugnisse noch einmal besonders heraus: Feline Altenhof, Moritz Beier, Marleen Egbers und Benno Reichel erreichten die Traumnote von 1,0. Diese hervorragenden Leistungen verdienen unsere besondere Anerkennung. Und dann gibt es noch eine Besonderheit in diesem Jahrgang: Ein Jahrgangspärchen hat tatsächlich zusammen die Durchschnittsnote von 2,0 und ein weiteres den ebenfalls traumhaften Durchschnitt von 2,2 erreicht. Sofern Intelligenz und Fleiß vererbbar sind, ihr zusammenbleibt und es euch irgendwann vielleicht wieder in die schöne Grafschaft verschlägt und ihr Kinder bekommt – ein Platz am EGN ist ihnen sicher.
Vielen von euch ist das Abitur nicht in die Wiege gelegt worden, manche haben schon sehr weite Wege hinter sich - kilometermäßig dürfte Foster mit 9906km aus Ruanda nicht zu toppen sein -, mussten Umwege in Kauf nehmen und haben vielleicht auch den einen oder anderen Irrweg eingeschlagen. Ich will hier nicht ins Detail gehen, aber es gibt in diesem Jahrgang eine Gruppe von Jungen, die zur Strafe einige Woche die Pause schweigend bei mir im Büro verbringen mussten. Es war gut, dass wir geduldig waren und niemanden aufgegeben haben.
Beeindruckt haben mich aber in den letzten zwei Jahren ganz besonders diejenigen unter Ihnen, die sich und ihr Leben nicht oder zumindest nicht ausschließlich dazu genutzt haben, ein möglichst gutes Abitur zu machen, zu jobben oder zu chillen, sondern sich über den Unterricht hinaus engagiert haben. Sei es im Schulvorstand, in der Schülervertretung, im Kuratorium der Landeskirche, in unserer SEG, in Sportvereinen, in Kirchengemeinden, bei MINT-EC-Camps und und und. Davon sind die meisten übrigens auch unter den Schüler*innen mit einem sehr guten Abiturergebnis! Außerunterrichtliches, soziales Engagement „rechnet“ sich deshalb m.E. nicht nur menschlich, sondern das sei nebenher gesagt tatsächlich auch im Blick auf die Leistungsfähigkeit und die Erfolge. Besonders beeindruckt hat mich ein Schüler unter Ihnen, der nicht nur durch zahlreiche Erfolge bei Geschichtswettbewerben glänzte und als Schülersprecher die Interessen der Schülerschaft engagiert in den verschiedenen Gremien vertreten hat. Nein, Malte, Du bist zum Sprecher der ganzen Schulgemeinschaft geworden spätestens als wir beide eine Stunde lang mit dem Bundespräsidenten auf Instagram gesprochen haben. Für Dein Engagement für das EGN gilt Dir mein ganz besonderer Dank.
Dass ihr das Abitur mit einem so guten Ergebnis abgeschlossen haben, ist sicher zuerst einmal eure persönliche Leistung. Es gibt aber viele, die daran mitgewirkt haben. Da sind an erster Stelle eure Eltern zu nennen, die euch von der ersten Minute eures Lebens zur Seite standen, die euch auf eurem bisherigen Wegen begleitet haben, die euch nächtelang als Babys herumgetragen, euch gewickelt und gefüttert, Kindergeburtstage organisiert, die Einschulung zelebriert, Tränen getrocknet und euch auch in der Pubertätszeit ertragen haben und die euch nicht zuletzt im Abitur umsorgt haben und nun mit Freude, ein bisschen Wehmut und vielleicht auch etwas Sorge heute hier sitzen.
Für einige von den Eltern verlässt heute das letzte Kind die Schule und bald vielleicht auch das Zuhause. Auch für Sie als Eltern beginnt deshalb ein neuer Lebensabschnitt. Die Umstellung ist nicht ganz einfach, manchmal auch traurig, aber freuen Sie sich darauf, wenn Ihre erwachsenen Kinder zu Besuch nach Hause kommen. Ich jedenfalls erlebe die Begegnungen mit den erwachsenen Kindern und deren Partnern als außerordentlich beglückend und bereichernd und wünsche ihnen allen diese Erfahrung von ganzem Herzen. Ihnen, den Eltern danke ich aber auch, dass Sie uns als Schule so vielfältig unterstützt haben. Bleiben Sie uns treu – unterstützen Sie das EGN weiterhin, wenn Sie die 12 € im Jahr entbehren können, dann bleiben Sie auch im Förderverein, schauen Sie bei Gottesdiensten und Sommerserenaden vorbei. Und: vielleicht begegnen wir uns ja auch als Großeltern von EGN-Kindern wieder...
Neben den Eltern sind es aber auch die Lehrerinnen und Lehrer, die euch mit viel Geduld und Herzblut bis zu dem heutigen Tag begleitet haben. Ich danke meinem Kollegium für die sorgfältige und gewissenhafte Arbeit, für die vielen Wochenendstunden und die ein und die andere Nachtschicht – nicht nur, aber besonders während der Abiturzeit. Die Lehrerinnen und Lehrer, aber auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind einen langen Weg mit euch gegangen. Als Klassenlehrer*innen und Tutor*innen haben wir euch begleitet. Ihr habt euch an uns gerieben, wir uns an euch, aber wir sind, so ist meine Einschätzung, immer in Verbindung geblieben. Ihr seid ein Jahrgang mit sehr ausgeprägten Persönlichkeiten und viele Lehrer*innen haben sich in ganz besonderer Weise um euch individuell gekümmert. Nicht immer waren wir dabei erfolgreich – dass Maurice z.B. pünktlich kommt, ist uns bis zum Schluss nicht gelungen – Ausnahme die Abiturprüfungen: da waren alle pünktlich! Manchmal hatte ich den Eindruck, dass ihr als Schüler*innen dieses Engagement für selbstverständlich haltet – ihr wart ja noch nie auf einer anderen Schule oder in der Universität, insofern ist euch daraus überhaupt kein Vorwurf zu machen, denn ihr kennt es ja nicht anders. Ich bin mir aber sicher, dass viele von euch den Kolleg*innen des EGN viel zu verdanken haben. Darum an dieser Stelle ein besonderes Dankeschön an das Kollegium!
Ohne gute Organisation würde das Abitur nicht funktionieren. Darum möchte ich an dieser Stelle meinen Kollegen Christoph Gastler und Steffen Dreier, die in diesem Jahr zusammen mit mir die Prüfungskommission gebildet haben, besonders danken. Stunde und Stunde haben wir im dunklen Verließ gestanden, um die Arbeiten zu vervielfältigen, Prüfungsmappen anzulegen, Prüfungspläne zu erarbeiten.
Ein ganz großes Dankeschön an unsere Sekretärinnen. Frau Müller hat umsichtig, äußerst gewissenhaft und in großer Selbstständigkeit die Abiturprüfung auf Seiten der Verwaltung organisiert. Wir konnten uns zu jedem Zeitpunkt auf Sie verlassen. Sie denken so sehr mit, dass ich mir eine Abiturprüfung ohne Sie überhaupt nicht mehr vorstellen kann. DANKE! Es war perfekt! Frau Müller konnte aber nur so arbeiten, weil Frau Holbein ganz selbstverständlich Teile der allgemeinen Arbeit übernommen hat. Darum auch an Sie, liebe Frau Holbein, mein herzlicher Dank.
Unsere Hausmeister und unser Schulassistent haben das ein um das andere Mal Tische und Stühle geschleppt, Absperrbänder aufgehängt und so dafür gesorgt, dass Sie in Ruhe arbeiten konnten. Danke, liebe Frau Oltrup, Herr Teuber, Herr Suntrup und Herr Schröer.
Und nun entlassen wir euch, liebe Abiturientinnen und Abiturienten. Es gilt Abschied zu nehmen – auch vom Obst. Aber: Auf die Dauer ist Kohlrabi vielleicht auch etwas eintönig und möglicherweise habt ihr dann und wann doch wieder Lust auf ein bisschen Obst. Kommt dann gerne wieder – nicht nur zum Baumumgang. Bleibt uns treu, unterstützt die Arbeit der Schule z.B. durch den Eintritt in unseren Förderverein, damit z.B. nachfolgende Schülergenerationen endlich einen schöneren Schulhof bekommen. Und für die Übergangszeit soll Euch der Obstriegel den Abschied etwas versüßen. Bleibt gesund und behütet!